03.01.2011, 06:00 Uhr

Technologie statt Papier

Die Schweizer Luftrettung erleichtert ihren Piloten die Startvorbereitung durch eine massgeschneiderte elektronische Datenhaltung.
Die Rega-Crew ruft alle aktuellen Infos zum Einsatz per Tablet-PC ab
Der Autor ist Business Development Manager für den Bereich Central Europe von Motion Computing Rund um die Uhr schnelle medizinische Hilfe aus der Luft an die Unfallstelle zu bringen, so lautet der Auftrag der Schweizerischen Rettungsflugwacht – egal ob es sich um Verkehrs-, Holz- oder Lawinenunfälle handelt. Allein an einem Winter­wochenende wird die Rega (Rettungsflugwacht und Garde Aérienne) oft zu über 100 Skiunfällen gerufen – meist mit dem Helikopter. Die Einsatzzentrale befindet sich in Zürich-Kloten, die Helikopterbasen sind über das ganze Land verteilt, sodass bei guten Flug­bedingungen innerhalb von maximal 15 Flugminuten jeder Ort erreichbar ist. Bedingung: klein, leicht, aktuell Helikopter haben – im Gegensatz zu Jets – keine Electronic Flight Bags (EFB) an Bord. Startet ein Pilot zum Einsatz, muss er deshalb die gesetzlich vorgeschriebenen Standarddokumente selbst mitnehmen. Dazu zählen umfangreiches Kartenmaterial, die MEL (Minimum Equipment List) oder die Betriebshandbücher für den Helikopter, die allein mit 5 bis 6 Kilo Gewicht zu Buche schlagen. Zudem muss er sich vor dem Einsatz mit tagesaktuellen Informationen zur Situation im Luftraum und auf Landeplätzen vorbereiten. Weight?&?Balance-Berechnungen inklusive Personengewicht, Treibstoff etc. ge­hören ebenso zur Einsatzvorbereitung und müssen den Luftfahrtbehörden bei Kontrollen jederzeit vorgewiesen werden können. Bisher wurden diese Dokumente stets ausgedruckt und mit­geführt. Neben dem immensen Papierberg und dem hohen Gewicht leidet darunter auch die Aktualität. Die Rega suchte daher nach einer unkomplizierten, effektiven Lösung, um Platz und Gewicht an Bord zu sparen. Jeder der zwölf Helikopterbasen sind drei Pi­lo­ten, drei Rettungssanitäter, diverse Ärzte und sogenannte Springer zugeteilt. Eine Standardbesatzung besteht aus einem Piloten, einem Rettungssanitäter und einem Arzt, die jeweils für 24 oder 48 Stunden im Dienst sind. In schwierigem Gelände wird zur Standardbesatzung zusätzlich ein Rettungsspezialist des Schweizer Alpen Clubs SAC mit an Bord genommen. Platz und Gewicht sind also entscheidende Faktoren, denn freier Platz kann für zusätzliche medizinische Geräte, Treibstoff oder Personen genutzt werden. Der Gedanke lag also nahe, die umfangreichen Unterlagen elektronisch zur Verfügung zu stellen, den Vorbereitungsprozess papierlos zu gestalten sowie in grossen Teilen zu automatisieren.

Lösung: Robuste Tablets Aufgrund der spezifischen Anforderungen im Flugbetrieb wurden zunächst verschiedene Tablet-PCs evaluiert. Nach gründlicher Auswertung setzte sich der Hersteller Motion Computing durch. Die Hauptkriterien: der hohe Mobilitätsfaktor, eine ausgezeichnete Akkuleistung und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Zentrales Anliegen der Piloten und Rettungssanitäter war eine massgeschneiderte Ober­fläche. Der IT-Projektleiter der Rega, Marcel Haldimann, programmierte die Anwenderoberfläche in Visual Basic.NET so, dass die Anwender die Funktionen selbst bei Flug­-bewegungen und ständigen Vibrationen dank vergrösserter Buttons zuverlässig nutzen können. Um praktisch alle Menüpunkte mit nur einem Klick sicher zu bedienen, hat sich der Stift als ideal erwiesen. Vor dem Abflug kann auch mit Maus und Tastatur gearbeitet werden. Die robusten F5-Modelle sind mit einer Solid State Disk gegen Erschütterungen gerüstet, nach IP54-Zertifizierung gegen Staub und Feuchtigkeit geschützt, mit Gorilla-Glas aus­gestattet und erfüllen den Militärstandard MIL-STD-810G. Ein Sturz vom Helikoptersitz in den Schnee sollte ebenso wenig ein Problem darstellen wie die ständigen Vibrationen und Stös­se während des Flugs. Die Tablets sind mit Windows XP nahtlos in das Unternehmensnetzwerk eingebunden und verfügen über eine Microsoft-SQL-Express-Version für die Helipad-Datenbank (www.helipad.org). Diese stellt aktuelle Daten über Luftfahrthindernisse und spezifische Gefahren zu Helikopterlandeplätzen im DACH-Bereich zur Ver­fügung. Wird beispielsweise ein unbekanntes Spital angeflogen, kann sich der Pilot über Anflugprozedere, Nachtbetrieb, Positionslichter und Treibstoffbetankung informieren.

Synchronisierungsproblem «Die grösste Herausforderung bei der Einführung der Geräte war die Programmierung des Replikations- und Synchroni­sationsmechanismus», berichtet Marcel Haldimann. Um 5:30 Uhr läuft jeden Morgen der von der Rega-IT programmierte Replikationsmechanismus, der den aktuellen Datenstand der relevanten Intranetbereiche und der Webapplikationen auf die Tablets der einzelnen Basen spielt. Da die Geräte standardgemäss mit einer WLAN-Schnittstelle ausgerüstet sind, könnte die Besatzung am Boden auch online arbeiten. Der behördlich vorgeschriebene EMI-Test (Elekt­romagnetische Interferenz) hat bereits gezeigt, dass die Radionavigationsgeräte beim Einsatz der Tablet-PCs während eines Rettungsflugs nicht beeinflusst werden.

Gründliche Testphase
Acht Einsatzteams testeten die Geräte über einen Zeitraum von zwei Monaten anhand eines im Vorfeld erstellten Kriterienkatalogs. In der zweiten Phase folgte ein Probebetrieb mit rund 16 Anwendern. Nach dem positiven Testlauf entschied sich die Rega, sämtliche Helikopterbasen über den Schweizer Vertriebspartner I-Bitpro AG mit den neuen Geräten auszustatten. Ausserdem stehen ein Austauschpool und Tablet-PCs für die IT-Abteilung zur Verfügung. Aufgrund des Schichtdienstes und der ständigen Bereitschaft galt es, eine Alternative zu einer zentralen Anwenderschulung zu ent­wickeln. Zunächst wurden die Geräte den Piloten auf den regulären Piloten-Meetings vorgestellt, anschliessend wurde von jeder Basis ein Verantwortlicher zu einer halbtägigen Schulung entsandt, der das Wissen an seine Kollegen weitergab. Reinhard Weissen, der als operationeller Projektmitarbeiter interne Anwenderschulungen vorgenommmen hat, meint: «Letztendlich hat sich der Prozess mit relativ wenig Aufwand entscheidend vereinfacht.»

Nahtlose Arbeitsabläufe Im Einsatzfall erfolgt der Zugriff schnell und unkompliziert: Der mit allen aktuellen Informationen bestückte Tablet-PC wird einfach am Griff aus seiner Dockingstation gezogen, mit in den Helikopter genommen und hinter dem Piloten verstaut. Benötigt der Pilot während des Flugs spezielle Informationen zu Krankenhauslandeplätzen, Bergbahnen oder Gebäudehöhen, ruft der Rettungsassistent die entsprechende Information auf. Dazu gehören zum Beispiel tagesaktuelle Karten mit Schiessgebieten der Schweizer Armee oder die in der Schweiz weit verbreiteten Transportkabel der Bergbauern – eine grosse Gefahr für Helikopter. Durch die gute Bildschirmdarstellung und die schnelle Anpassung des Displays an unterschiedliche Lichtbedingungen (View-Anywhere-Feature) kann sich der Pilot auch aus ungünstigem Blickwinkel und bei grosser Blendwirkung durch Schnee aktuelle Informationen zum Fluggebiet zeigen lassen. Des Weiteren ist man durch die vor dem Start durch­geführte und gespeicherte Flugvorbereitung jederzeit bereit für einen möglichen «Rampcheck», der von der Luftfahrtbehörde an jedem Landeplatz durchgeführt werden kann. Eine Akkuladung hält für bis zu sieben Stunden im Standby-Modus. Für den Notfall führt das Team einen Ersatzakku mit, der unter schwie­rigen Bedingungen – etwa wegen grosser Kälte – unterbrechungsfrei im Hot-Swap-Modus gewechselt werden kann. Jeweils bei Schicht­ende wird der F5 in die Dockingstation gesteckt, die den Akku lädt und automatisch ein Update über das Firmennetz durchführt. So arbeiten die Schichten immer abwechselnd mit den beiden identisch aus­gestatteten Geräten der Helikopterbasis. Das Team kann sich auf eine aktuelle Datenbasis und einen geladenen Akku verlassen, egal ob es um Mitternacht mit Nachtsichtgerät einen Einsatz an der Eiger Nordwand fliegt oder vormittags zu einem Verkehrsunfall gerufen wird. Obwohl sich der Pilot auch über die Einsatzzent­rale informieren kann, ist es eine grosse Erleichterung, jederzeit alle Daten auf Knopfdruck parat und die relevanten Intranetbereiche tages­ak­tuell hinterlegt zu haben. Das Telefonbuch und die unzähligen Karten von Skigebieten, die nur selten angeflogen werden müssen, sind platzsparend und aktuell abgespeichert. Der Entwicklungsaufwand für die Integration der Tablet-PCs durch die IT-Abteilung konnte mit 55 Manntagen schlank gehalten werden, die Investi­tionskosten für die Geräte fielen im Vergleich zu anderen «Rugged»-Modellen günstiger aus. Bei einer konservativen Schätzung von durchschnittlich 10 Minuten Zeitersparnis pro Vorgang, ergibt sich daraus eine Effizienzsteigerung von bis zu acht Stunden pro Woche. Zudem werden so Papierkosten gespart. Die Investition hat sich für die Rega in mehrfacher Hinsicht gelohnt: Die erhöhte Ak­tualität sei nicht nur eine Arbeitserleichterung für das Team, dadurch könne sich auch die Sicherheit für Crew und Patienten erhöhen, meint der IT-Projektleiter der Rega.
Fazit: Akzeptanz bei den Anwendern Die Effizienzsteigerung, die Platzersparnis und der Schritt zur papierlosen, elektronischen Helikopter «Flight Bag» sind die wichtigsten Verbesserungen. Ausserdem konnten die Papierberge sowie die Verwaltungszeit verkürzt werden, und die Daten sind auch noch aktueller. Von den verfügbaren 64 GB Speicherplatz schöpft die Rega aktuell trotz umfangreichen Kartenmaterials derzeit maximal 20 GB aus, es bleibt also noch Platz für zusätzliche Anwendungen. Die Piloten und Rettungssanitäter haben inzwischen eine Reihe von Ideen gesammelt, wie der F5 ihren Arbeitsalltag weiter vereinfachen könnte. Schon jetzt steht fest, dass die Vorschläge bald zentral erfasst und gesichtet werden. Auf der Wunschliste der Anwender werden mit Sicherheit die Bearbeitung medizinischer Reports und der Onlinezugang für die aktuelle Wetterabfrage ganz oben stehen. Nach dem erfolgreichen Start sieht Haldimann noch grosses Potenzial für die Zukunft: «Wir sind gerade erst am Anfang, es bleibt noch viel Spielraum für weitere Anwendungen.»


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