21.05.2013, 13:43 Uhr

Big Data - Big Hype

Welche Schweizer Unternehmen und Märkte sollten Big Data unbedingt nutzen, welche lassen vorerst besser die Finger davon? Erprobte Einsatzszenarien, Best Practices und Top-Anbieter.
Welche Schweizer Unternehmen und Märkte sollten Big Data unbedingt nutzen, welche lassen vorerst besser die Finger davon?
Big Data ist definitiv ein Hersteller-Hype. Sollten Sie Chef eines florierenden Schweizer KMU sein, lassen Sie sich nicht nervös oder kopfscheu machen. Sie brauchen Big Data Analytics nicht hier, jetzt und sofort. Später, ja, vielleicht, aber noch nicht heute. Studien, Analysen und Befragungen, die Big-Data-Technologie pushen, wurden meist von den Herstellern in Auftrag gegeben oder von ihnen selbst durchgeführt. «Big Data ist eine potenzielle Goldgrube», titelt zum Beispiel Cisco und erwähnt dezent nebenbei, dass man dafür leistungsstärkere Netzwerke benötigt. Natürlich setzen auch Storage-Anbieter wie EMC, NetApp oder HP grosse Umsatzhoffnungen auf den Big-Data-Hype. Sind Sie dagegen Top-Manager eines Schweizer Grossunternehmens, dann werden Sie beim Thema Big Data ein Gähnen nur schwer unterdrücken können. Denn Sie praktizieren in Ihrem Unternehmen Big Data Analytics, Enterprise Datawarehousing und möglicherweise auch In Memory Computing schon längst, seit vielen Jahren. So what? Für Sie ist Big Data kein Hype oder Trend, sondern bereits Realität. Was soll das ganze angestrengte Gerede? Klar ist damit: Wer aus Big Data Mehrwert für sein Unternehmen ziehen will, muss erstens Big Data haben. Dabei zählt nicht nur das schiere Datenvolumen, das sich auf den Storage-Medien in den Himmel stapelt: Terabyte, Petabyte oder schon Exabyte. Auch die Komplexität der Daten gilt es, in Betracht zu ziehen. Dort können selbst recht geringvolumige Datenbestände schon harte Nüsse zu knacken geben. Daten­experten sprechen in diesem Zusammenhang gerne von den drei «V»: Volume (das Datenvolumen), Velocity (hohe Geschwindigkeit, etwa bei Sensordaten) und Variety (strukturiert, unstrukturiert, semistrukturiert). Gartner-Analyst Merv Adrian schreibt: «Big Data übersteigt die Leistungsfähigkeit gebräuchlicher Hardware-Umgebungen und Software-Tools, um die anfallenden Daten zu sammeln, zu managen und anschliessend zu analysieren» – innerhalb eines akzeptablen, vertretbaren Zeithorizonts versteht sich. Big Data selbst zu haben, ist die eine Seite der Erfolgs­medaille, sie dann (zweitens) auch gewinnbringend zu nutzen, die andere. IDC-Analyst Matthias Zacher nennt einige lohnenswerte Anwen­dungs­szenarien und beruft sich dabei auf eine Ende 2012 von IDC durchgeführte Befragung unter 254 (deutschen) Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitenden. Zu den von den Studienteilnehmern am häufigsten genannten Einsatzszenarien zählen laut Zacher Controlling, Finanzplanung und Budgetierung, Preisoptimierung, Kundenrentabilität und Kundenverhalten (zum Beispiel Behavioral Marketing), Vertriebssteuerung, Maschinenauslastung, Betrugserkennung, Wettbewerbsanalyse und Simulationen/Zukunftsszenarien. Aber auch IT-intern, darauf weist Zacher hin, könne Big-Data-Technologie Vorteile bringen. Beispielsweise bei der Messung und Optimierung des Datenverkehrs, der besseren Auslastung der eigenen ICT-Infrastruktur oder beim Websitemonitoring. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Swisscoms Strategie

Swisscoms Strategie

Gegen derlei Einsatzszenarien hätte sicher kein Schweizer Unternehmen irgendetwas einzuwenden. Aber was praktizieren Schweizer Firmen schon heute? Computerworld hatte Gelegenheit, am Rande des Teradata Universe 2013, das Mitte April in Kopenhagen stattfand, mit der Schweizer Helsana und dem Telco-Anbieter Swisscom zu sprechen. Daniel Neuhaus, Head of Business Intelligence Center bei Swisscom, äusserte sich ungewöhnlich klar und deutlich: «Wir haben eine kritische Einstellung zu Big Data», sagte Neuhaus. Der Big-Data-Hype sei von den Herstellern getrieben, die damit die Abverkäufe ihrer Produkte anheizen wollten. Denn wer Petabytes an Daten analysieren wolle, müsse sie erst einmal abspeichern – und davon profitierten wiederum Hersteller wie der Storage-Anbieter EMC. Ganz so spinnefeind steht Neuhaus dem Big-Data-Trend dann aber doch nicht gegenüber. Denn schliesslich hat er über die letzten fünf Jahre das Business Intelligence Centre (BIC) der Swisscom aufgebaut und dort lagern immerhin 70 Terabyte an Daten. Das BIC bietet den Geschäftseinheiten der Swisscom analytische Services an und habe sich, so betont Neuhaus, bereits beim Ausbau des Breitbandnetzes bezahlt gemacht. Wo in der Schweiz wohnen Kunden mit hoher Affinität zu Breitband- und Fibre-Angeboten (soziodemografische Daten)? Wo baut bereits die Konkurrenz? Wo haben wir eine hohe Return-Wahrscheinlichkeit? Fragen wie diese lassen sich mit Big Data und Business-Intelligence-Tools faktenbasiert beantworten. Neuhaus schaut noch ein wenig weiter in die Zukunft. Für die IT gehe es darum, schon heute die Voraussetzungen für analytische Dienste zu schaffen, die das Business in zwei, drei Jahren benötigt. Denn «wir gehen in neue Geschäftsfelder hinein», unterstreicht Neuhaus, und nennt als Beispiele für zukünftige, für Swisscom attraktive Märkte «Smart Energy» und «Smart Home». Lesen Sie auf der nächsten Seite: Big-Data-Kunde Helsana

Big-Data-Kunde Helsana

Der zweite Schweizer Big-Data-Kunde, Helsana Versicherungen AG, bedient den Gesundheitsmarkt. Etwa 70 Prozent der Prämieneinnahmen unterliegen den Auflagen der obligatorischen Sozialversicherung. 30 Prozent ihres Umsatzes aber erzielt die Helsana mit der freiwilligen Privatversicherung, die Versicherten Zusatzleistungen anbietet. Und auch auf diesem, in der Schweiz wachsenden Markt leistet ein intelligentes Data Warehouse gute Dienste. «Helsana hat ihre Datensilos überwunden und ein abteilungsübergreifendes Enterprise Data Warehouse eingeführt», sagte Armin Eisendle, Leiter Anwendundungsentwicklung bei Helsana. Das neue EDW mit Fokus konsistentem finanziellem Reporting hilft zum Beispiel für ein rentabilitätsorientieres Krankenversicherungsmanagement, bei der Aufdeckung von Versicherungsbetrügereien oder beim neuen Behandlungskonzept «Managed Care». Im konsolidierten  Data Warehouse von Helsana kommen Lösungen von IBM, SAS und Teradata zum Einsatz.
Thomas Seidel, Solution Architect und Manager DWH Consulting bei Teradata Schweiz, tritt in Sachen fortschrittlicher Big-Data-Nutzung jedoch ein wenig auf die Bremse. Big Data sei, nach der heutigen Definition (laut Gartner), bei Helsana noch kein strategisches Thema. Der Bereich Webanalytics sei in der Versicherungsbranche und in der Schweiz bisher einfach noch nicht signi­fikant genug, um grössere Analyseaufwendungen zu rechtfertigen, sagte Seidel zu Computerworld. Auch innovativere Datenquellen wie Voice­-daten oder Sensordaten von medizinischen Devices – man denke etwa an die mobile Überwachung von Hochrisikopatienten – seien noch nicht angedacht. Die Analyse existierender Daten sei für Schweizer Versicherer allerdings bereits heute interessant. So könnten sogenannte Churn-Analysen über die Patientenhistorie (Arztbesuche, Diagnosen, Behandlungsmethoden, Medikamentation etc.) mittlerweile viel breiter abgestützt und effizienter durchgeführt werden. Laut Seidel führt Helsana auch sogenannte Pfadanalysen von kündigenden beziehungsweise kündigungsgefährdeten Mitgliedern durch, die dann geclustert und in der Geschäftseinheit «Retention» verwendet werden, um die Wackelkandidaten zu halten. Seidel nennt als Beispiele für komplexere Analysen im klassischen Data Warehousing Dinge wie Risikoausgleich, Provider Benchmarking, Tarif­kontrollen, Austrittswahrscheinlichkeiten und Customer-Lifetime-Analysen. Derartige Analysen sind für Schweizer Versicherungen schon heute nichts Besonderes mehr. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Kaum genutztes Potenzial

Kaum genutztes Potenzial

Vielleicht ist ein Blick über den grossen Teich auf die USA hilfreich, um sich die eine oder andere Anregung auch für den Schweizer Markt zu holen. Denn das Gesundheitswesen nennt auch Stephen Brobst, CTO von Teradata und Technologieberater von Präsident Barack Obama, als eines der vorrangigen Einsatz­szenarien für Big Data Analytics. «Ich bin fest davon überzeugt, dass in Big Data immense Möglichkeiten liegen, die zurzeit nur sehr unzureichend ausgeschöpft werden», sagt Brobst. Als CTO eines Big-Data-Experten wie Teradata sieht er das Big-Data-Potenzial sehr euphorisch: «Wir müssen die riesigen Datensammlungen im Gesundheitswesen nutzen, um eine bessere Gesundheitsvorsorge (etwa durch DNA-Analysen) zu niedrigeren Kosten hinzubekommen», insistiert Brobst und nennt als weitere Anwendungsfelder Verkehrsleit­systeme, softwaregesteuerte Autos, Logistik und die Städteplanung. Der Däne Erik Brynjolfson, ein Big-Data-Enthusiast vom Center for Digital Business am MIT (Massachusetts Institute of Technology), hat mit Empirie und Statistik auf Franken und Rappen ausgerechnet, was der Einsatz von Big Data Analytics Unternehmen letztlich an Mehrwert bringt. Datenexperten präsentieren als abschreckendes Beispiel gerne das sogenannte Hippo-Prinzip, nach dem offensichtlich auch in Schweizer Unternehmen immer noch viele
geschäftskritische Entscheidungen gefällt werden. Das Akronym steht für «Highest Paid Person’s Opinion». Mit anderen Worten: Alle schliessen sich der Meinung des Leitwolfs an. Demgegenüber sollen die «Data-driven Deci­sions (DDD)» echte, das heisst faktenbasierte Vorteile für Unternehmen generieren. Brynjolfson zauberte auf dem Teradata Universe 2013 sogar eine beeindruckende wissenschaftliche Formel aus dem Hut, mit der sich die Vorteile von DDD exakt berechnen lassen sollen. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Big Data: Mehrwert in Prozent

Big Data: Mehrwert in Prozent

Ganz konkret wird sein Kollege Michael Chui vom McKinsey Global Institute. Chui hat von 1999 bis 2009 empirisch die jährlichen Wachstumsraten von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen miteinander verglichen (CAGR, Compound Annual Growth Rate). Vergleicht man die durchschnittlichen Jahresumsätze, dann erzielten Kreditkartenunternehmen mit ausgefeilter Big-Data-Strategie ein jährliches Umsatzwachstum von 14 Prozent (ohne Big Data: 9 Prozent), Onlinehändler mit Big Data Analytics legten sogar um 24 Prozent pro Jahr zu (ohne Big Data: minus 1 Prozent). Verständlicherweise schlagen die Vorteile von ausgefeilter Webanalytics – im Web ist alles messbar – voll zu Buche. In der Versicherungsbranche dagegen fällt der Wachstumsunterschied punkto Umsatz mit 9 (mit Big Data) gegen 8 Prozent (ohne Big Data) nicht so sonderlich hoch aus. Die Daten wurden auf dem amerikanischen Markt erhoben. Interessante Aufschlüsse über die Höhe der Investitionen, die Schweizer Unternehmen für eine Big-Data-Strategie aufwenden müssen, gibt eine im Februar 2013 vom Business Application Research Centre (Barc) veröffentlichte Befragung unter 155 DACH-Unternehmen (vgl. «Big Data Survey Europe, Nutzung, Technologie und Budgets europäischer Best Practice Unternehmen»). Demnach nutzen 79 Prozent für Big Data – zumindest auch – ihre klassischen relationalen Datenbanken, 68 Prozent setzen Standard-BI-Werkzeuge ein und die Hälfte vertraut Individualentwicklungen. Avantgarde-Tools wie Big Data Appliances (15 Prozent), Hadoop File System (14 Prozent) und NoSQL-Datenbanken (10 Prozent) werden zurzeit nur zögerlich eingesetzt (siehe Grafik). Lesen Sie auf der nächsten Seite: IBM am Bekanntesten

IBM am Bekanntesten

Der bekannteste Big-Data-Hersteller ist laut Barc übrigens mit grossem Abstand IBM. Dann folgen in dieser Reihenfolge Oracle, SAP, Microsoft, Teradata und SAS. IBM habe sich sehr über den Markterfolg von Oracle geärgert und daher sehr viel Geld für Marketingmassnahmen in Sachen Big Data ausgegeben, erklärt sich Carsten Bange vom Barc im Gespräch mit Computerworld das gute Abschneiden von Big Blue. Das intensive Marketing trage jetzt Früchte und schlage sich in einem hohen Bekanntheitsgrad nieder. Ein kleines Fragezeichen schwebt jedoch über den Ergebnissen der Barc-Studie. Zwar betont das Institut, dass es die Studie völlig un­abhängig erstellt habe. Gesponsort wurde sie aber von IBM, Informatica, Microsoft, Tableau, pmOne, Ab Initio Software und Teradata. Firmen also, die ein Eigeninteresse am Big-Data-Hype sicher nicht vollständig verleugnen können.


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