Praxis 19.01.2015, 09:00 Uhr

Ein Plädoyer für mehr Netzpolitik

Stellen wir uns vor, das Parlament eines modernen Industriestaates würde sich nicht um dessen Stromversorgung kümmern oder nicht um sein Strassen- und Bahnnetz: undenkbar! Das offene Internet aber nehmen alle einfach als gegeben hin. Das ist unverantwortlich.
Wie lange würde die Wirtschaft ohne Strom funktionieren? Wie fänden Güter und Menschen ihren Weg, ganz ohne funktionierende Strassen? Wohl nur wenige Stunden, im besten Fall ein paar Tage. Auch das Internet ist heute eine Schlüsselinfrastruktur, auf die alle bauen, und zwar beruflich wie privat; dabei geht es um die Datenleitungen zu den Wohnungen und Büros und die Mobilfunkantennen, die grossen nationalen und internationalen Backbones, die Verbindungen verschiedener Netze, aber auch die riesigen Datenzentren. Es ist eine Schlüsselinfrastruktur, die genauso zum Alltag gehört wie eine funktionierende Strom- und Wasserversorgung, ein intaktes Strassen- und Bahnnetz und die öffentlichen Verkehrsmittel, die darauf verkehren. Es ist eine Infrastruktur, die für die Realwirtschaft ebenso zentral ist wie die funktionierende Kreditversorgung durch Geschäftsbanken.
Natürlich lässt sich darüber streiten, welche dieser Infrastrukturen minimal wichtiger ist als andere. Unbestritten aber ist, dass sie alle die Basis für das Funktionieren unseres Alltags bilden. Zu Recht stehen diese Infrastrukturen im Zentrum der grossen politischen und gesellschaftlichen Debatten.
Netzpolitik darf kein Orchideenfach bleiben!
Umso erstaunlicher ist es, dass die Netzpolitik unter den Politikerinnen und Politikern in der Schweiz erst den Status eines Orchideenfachs hat. Die Älteren scheinen die revolutionären technischen Neuerungen auszublenden – sonst müssten sie doch auch um angemessene Antworten auf den damit verbundenen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel bemüht sein. Und die Jüngeren haben sich an einen ständigen schrittweisen Fortschritt gewöhnt – das Gespür für die tatsächliche Bedeutung der grundlegenden Umwälzungen, die mit den Informationstechnologien möglich sind, geht auf diese Weise verloren.
Die Frage nach der Bedeutung, den Zielen und Rahmenbedingungen unserer Informationsgesellschaft und den ihr zugrunde liegenden Technologien und Geschäftsmodelle hätte viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Gerade auch von der Politik.
Nehmen wir als Beispiel das Thema Netzneutralität. Hier geht es im Kern darum, dass die Betreiber der Datenautobahnen gegenüber dem Datenverkehr, der auf ihren Leitungen stattfindet, neutral verhalten und keine speziellen «Wegzölle» verlangen dürfen. Ohne solche Regeln können die Betreiber ihre eigenen Inhalte priorisieren – oder missliebige Konkurrenz mit höheren Preisen ausschalten. Während das heutige Fernmeldegesetz den Betrieb der Kupferkabel des alten Telefonnetzes pingelig genau reguliert, ist die schöne neue Welt der Glasfasern und das Mobilfunkinternet völlig ungeregelt. Nicht unproblematisch: Denn die meisten Leute verlassen sich darauf, auf ein offenes Internet zugreifen zu können. Das ist heute ohne Netzneutralität allerdings überhaupt nicht garantiert.
Energie und Information: Dezentralismus als neues Paradigma
Einer der wenigen, der die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung der Informationstechnologien erkannt und benannt hat, ist der Amerikaner Jeremy Rifkin. Er führt in seinem Buch «Die dritte Industrielle Revolution» aus, dass immer erst das Zusammentreffen eines Wandels in der Energieproduktion und eines Wandels in der Informationstechnologie zu einer eigentlichen Industriellen Revolution geführt hat.
Erst die globale Verbreitung und damit eben gleichzeitig auch lokale Omnipräsenz der modernen Informationsnetzwerke legt nun – laut Rifkin – im Zusammenspiel mit einer weit lokalisierteren und kleinräumigeren Energieproduktion das Fundament für eine effektive Energiewende und damit für die von ihm so genannte «dritte Industrielle Revolution». Netzpolitik sollte aber nicht Halt machen beim Versuch, moderne Informationsnetzwerke als Grundinfrastruktur zu sichern und sie im Sinne Rifkins positiv zur Realisierung der Energiewende zu nutzen.
Von der Informations- zur Diskussions-Gesellschaft
Wir sollten uns auch fragen, welchen Einfluss die neuen Medien auf die Politik, auf die Öffentlichkeit, auf die Demokratie haben. Was wäre eine Demokratie ohne öffentliche Debatte? Und was war die öffentliche Debatte ohne ihr jeweiliges Medium – also vor dem Internet die Zeitungen und Zeitschriften. In der Vergangenheit brauchte die Demokratie neue Formen der Vermittlung der Debatten, damit sie den lokalen Marktplatz der Meinungen überschreiten konnte, brauchte es neue Formen der Vermittlung der Debatten: eine neue Stufe der Informationsgesellschaft.
Zwar rief weder der Flugblattdruck die Reformation hervor noch die Erfindung der Tageszeitungen die moderne parlamentarische Demokratie. Aber diese technischen Entwicklungen waren doch wesentlich und Bedingungen für den gesellschaftlichen Wandel.
Die Frage, wie die umwälzenden Entwicklungen der digitalen Informationskanäle auch die Entwicklung der Öffentlichkeit(en) beeinflussen und damit die Zukunft unserer Demokratie in neue Richtungen prägen oder gar unterminieren werden, diese Frage müsste nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern alle Bürgerinnen und Bürger eigentlich brennend interessieren.
Wer die Netzpolitik allerdings der Piratenpartei und ein paar wenigen Netzpolitikern überlässt – zu denen ich mich auch zähle – meldet sich freiwillig aus einer Debatte ab, die manchmal zwar etwas kompliziert, aber eben auch spannend ist. Und fundamental wichtig für uns alle.
 
Eine Plattform für die Politik
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  • Dr. Matthias Stürmer: Digital goes politics: Einblick in die Schweizer ICT-Verbands- und Politiklandschaft
  • Blathasar Glättli: Ein Plädoyer für mehr Netzpolitik
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