Abacus-Chef Hintermann 31.08.2016, 15:13 Uhr

«Es herrscht ein gewisses Mass an Anarchie»

Claudio Hintermann verriet CW, vor welchen Tricks der Anbieter man sich hüten muss, warum so viele Ausländer gerne nach St. Gallen kommen und was er gegen die illegale Freihandvergabe der Behörden tun will.
Claudio Hintermann ist Gründer und CEO von Abacus, einer der grössten Biz-Software-Anbieter der Schweiz. Seit Jahren kämpft er gegen die freihändige Auftragsvergabe der St. Galler Gemeinden. Viele Leute finden das gut, was ich mache, sagte Hintermann zu CW. Im Gespräch verriet der Abacus-Chef, wie man Komplexität in den Griff bekommt, warum so viele Ausländer gerne nach St. Gallen kommen und was für die Zukunft auf der Agenda steht.
Herr Hintermann, was hat Sie in den letzten Monaten besonders gefreut, und besonders geärgert?
Hintermann: Besonders gefreut hat mich, dass ich jetzt einen Stellvertreter habe, der zu Abacus passt. Nicht nur, was das Fachwissen angeht, sondern auch auf persönlicher Ebene. Freddy Kaiser kommt von der Swisscom Security Solutions, war davor CTO bei der SwissSign und zügelt jetzt vom Wallis zu uns in die Ostschweiz.
Abacus offeriert eine Menge Services, Mobile, Cloud und Backend, die ich nicht mehr alle selbst handhaben kann. Es freut einen schon sehr, wenn man da Verstärkung bekommt. Freddy Kaiser ist eine sehr kompetente Besetzung und verstärkt Abacus als Head of Engineering & Architecture.
Das klingt so, als ob die Geschäfte sehr gut laufen.
Hintermann: Ja einerseits schon, sicher. Aber die Komplexität ist auch viel grösser geworden. Wir sind im Mobile und im Backend gut unterwegs, haben aber in der Cloud noch Defizite gehabt, und da kommt Freddy Kaiser gerade rechtzeitig. Jetzt können wir in der Cloud Vollgas geben, und tun das auch.
Zum zweiten Teil ihrer Frage: Geärgert hat mich die freihändige Vergabe von Aufträgen der St. Galler Gemeinden durch die VRSG, und die hohen Anwaltskosten, die eine Klage dagegen nach sich zieht. Wir sind gezwungen, viel Geld auszugeben, um überhaupt Software offerieren zu können. Und es ist noch kein Ende abzusehen.
Die Gemeinden zeigen sich extrem uneinsichtig. Was man mit uns anstellt, könnte man mit den Schweizer Bauern nicht anstellen. Es ist so, als würde man einem Unternehmen vorschreiben, nur deutsche Milch einzukaufen, und Schweizer Bauern dürfen noch nicht einmal offerieren. Abacus ist ja nicht die einzige Firma, die ausgeschlossen wird.
Warum zieht sich das Verfahren so lange hin?
Hintermann: Die Öffentliche Hand sistiert und verzögert alle Verfahren endlos. Wir haben nach dem Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) vor zwei Jahren Anfragen gestartet, die von dem zuständigen Verwaltungsgericht immer noch nicht beantwortet worden sind.
Gibt es nicht auch Fristen, die vom Gericht eingehalten werden müssen?
Hintermann: Gerichte haben keine Fristen, sie können entscheiden, wann sie wollen. Wenn die Instanzen nicht entscheiden, können Sie als Kläger eine Rechtsverweigerungsbeschwerde einreichen, und Abacus hat das bereits mehrmals getan.
Wir sind momentan soweit, dass wir noch nicht einmal einen Kontoauszug einer Gemeinde einsehen dürfen. Mit der Begründung, die Gemeinde würde damit Geschäftsgeheimnisse eines Lieferanten verraten. Wir benötigen aber diese Informationen, um klagen zu können. Das ist an Absurdität kaum zu überbieten.
(Nachtrag: Der St. Galler Regierungsrat hat einige Tage nach dem Interview verfügt, dass die Gemeinde Wittenbach die Kontenblätter aus den Jahren 2009 bis 2014 gegenüber Abacus offenlegen muss.)
Wie lange wird sich das Verfahren noch hinziehen?
Hintermann: In den letzten 25 Jahren haben die St. Galler Gemeinden ja nie etwas ausgeschrieben. Es ist ein allgemeines Problem der Öffentlichen Hand: Es wird nicht richtig evaluiert und meistens bekommen internationale Konzerne den Zuschlag.
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Was sagen ihre Mitarbeiter über Sie?
Hintermann: Keine Ahnung, wahrscheinlich dass ich ein Chaot bin, vielleicht ein kreativer, liebenswerter Chaot, aber immer noch ein Chaot. Ich komme mit halbfertigen Ideen, und sie dürfen es dann ausbaden.
Dann sieht ihr Schreibtisch sicher auch typisch chaotisch aus.
Hintermann: Man sagt ja, wer aufräumt, ist zu faul zum Suchen.
Stichwort kreativ - sind Schweizer Software-Entwickler kreativer als die Konkurrenz? Bei Abacus bekommen die Programmierer die Büroplätze mit der schönsten Aussicht.
Hintermann: Na gut, das ist bei Google nicht anders. Man versucht, den Programmierern ein Umfeld zu schaffen, wo sie sich kreativ entfalten können. Ob Schweizer Programmierer kreativer und besser sind, weiss ich nicht, denn wir haben auch viele Ausländer eingestellt.
Welche?
Hintermann: Wir haben viele Deutsche, Österreicher, Italiener, Franzosen, aber auch Tschechen, die für uns arbeiten. Google in Zürich übt auf Schweizer Programmiertalente eine grosse Anziehungskraft aus. Wir könnten gar nicht alle Entwicklerstellen mit Schweizern besetzen. Und ein Basler oder Berner kommt nicht nach St. Gallen.
In der Schweiz haben wir das Phänomen, dass die Leute sehr ortsgebunden sind. Ein Berner bleibt in Bern, ein Basler in Basel, ein Luzerner in Luzern. Ausgenommen, es geht nach Zürich, denn Zürich ist extraterritorial. Mit diesem Problem hat nicht nur die IT-Branche zu kämpfen. Ich habe mit Personalmanagern bei der Post gesprochen. Wenn die Post eine Führungsposition ausschreibt, dann sind es zur Hälfte Deutsche, die sich melden. Deutsche haben nicht diese Ortsgebundenheit und finden die Schweiz cool.
Schweizer aber denken zuerst, Moment, meine Schwiegermutter ist hier, meine Mama, jemand muss meine Hemden waschen und so weiter. Also bleibt man, wo man ist, ausser es geht nach Zürich.
In der Heimat ist es eben doch am Schönsten.
Hintermann: Wir bekommen Leute aus St. Gallen, aus Flawil bis nach Winterthur. Dort liegt in etwa die Grenze. Sonst kommen Ausländer zu uns.
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Lagern Sie Programmieraufgaben aus?
Hintermann: Für bestimmte Features arbeiten wir gelegentlich mit externen Programmierern zusammen, aber meistens innerhalb der Schweiz. Wir haben zum Beispiel kürzlich einen Auftrag an eine Walliser Firma herausgegeben. Die Nähe ist schon entscheidend. Oder wir verwenden Open-Source-Produkte, dann sponsern wir die Projekte. Wir zahlen für Features und lassen sie von Open-Source-Programmierern entwickeln. Ganze Open-Source-Bibliotheken laufen bei uns im Hintergrund.
Gibt es auch Abacus-Programmierer, die sich in der Open-Source-Szene engagieren und sich dafür Zeit freihalten?
Hintermann: Das haben wir auch schon gemacht. Aber meistens gehen wir hin und fragen die Community: Was kostet es, wenn ihr dieses Feature auch einbaut? Es sind meist Kerntechnologien, die wir benötigen, und nicht nur wir brauchen zum Beispiel ein bestimmtes Security-Feature, sondern es besteht ein allgemeiner Bedarf. Die Antwort der Community ist dann meist ein ‚Ja‘.
Was ist der Vorteil für Abacus, verglichen mit der Eigenentwicklung im Haus? Open-Source-Programmierer sind schneller und kreativer, das hören wir oft.
Hintermann: Die freien Programmierer haben natürlich nicht die ganzen Management-Layer über sich, sondern können sich ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren. Aber es gibt auch extrem viele tote Projekte, die Entwickler interessieren sich einmal für dies, dann wieder für das. Die Beständigkeit ist nicht immer vorhanden. Denn jeder kann Open-Source-Projekte starten, aber am Ende ist niemand verantwortlich dafür.
Open-Source-Entwickler müssen sich nicht gegenüber einer Kundschaft verantworten, die gezahlt hat und einen Anspruch auf Beständigkeit hat. Es herrscht deshalb ein gewisses Mass an Anarchie.
Interessantes Feedback, die Open-Source-Gemeinde streicht eher die Vorteile wie Schnelligkeit, Agilität und Kreativität heraus.
Hintermann: Auf der unteren Ebene wie dem Betriebssystem oder den Libraries stimmt das auch. Aber je weiter nach oben man sich im Stack bewegt, desto komplexer und schwieriger werden Open-Source-Projekte.
Es gibt ja zwei Typen von Programmierern: Die einen machen gerne etwas Spannendes, und wenn es fertig ist, interessiert es sie nicht mehr. Und die anderen müssen schauen, dass der Sourcecode weiterhin läuft. Das ist bei Open-Source-Projekten nicht immer gegeben.
Lagert ihr aus Kostengründen Programmierprojekte in Ländern aus, wo das Preis- und Gehaltsniveau niedriger ist als in der Schweiz?
Hintermann: Nein, das tun wir nicht. Ein Blackbox-Problem wie einen Konverter könnte man in ein Billiglohnland geben. Aber sobald die Prozesse komplexer sind, müssen wir sicher gehen, dass der andere versteht, um was es geht. Etwas für uns so Selbstverständliches wie ein Mehrwertsteuersatz ist für einen Inder oder einen Vietnamesen etwas extrem Unlogisches.
Beide haben hohe mathematische Fähigkeiten, aber man muss ihnen eine Business-Logik erklären, die sie nie gelernt haben. Sogenannte gesetzliche Unlogiken erklären, die für uns vollkommen logisch sind, weil wir darin leben. Ausländische Entwickler liefern dann etwas ab, was man hundert Mal korrigieren muss, weil die Programmierer die Business-Logik nicht begriffen haben.
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Also ausprobiert habt ihr es schon einmal?
Hintermann: Wir haben es einmal mit einem kleinen Konverter ausprobiert, aber die Performance des Endproduktes hat uns nicht überzeugt. Wir haben das Projekt bezahlt, mussten es aber einstellen. Danach haben wir einen amerikanischen Programierer damit beauftragt, der drei Mal so teuer war, aber die Software hat am Ende reibungslos funktioniert.
Der Abstimmungsbedarf mit Ländern wie Indien oder Vietnam ist sehr hoch. Was man beim Programmierer einspart, legt man beim Testing und beim Projekt-Management wieder drauf. Grössere Projekte mit viel Business-Logik sehe ich als sehr problematisch an.
Meine Erfahrung hat mich gelehrt: Wenn man mit ausländischen Programmierschmieden spricht, das Land nenne ich jetzt nicht, dann bekommt man oft den Super-Vorzeigeprogrammierer präsentiert, der auch alles weiss und alles kann. Aber ich glaube, dass der gar nicht mehr programmiert, sondern nur noch von Kunde zu Kunde geht. Dahinter stehen Entwickler, die sich nicht auf diesem Niveau bewegen.
Was steht für die nächsten Monate auf der Agenda?
Hintermann: Wir bauen einige Cloud-Produkte, die ohne Abacus funktionieren, denn Teile der Geschäftslogik werden zukünftig in die Cloud ausgelagert. Diese neuen Cloud-Produkte kann man dann mit Abacus verknüpfen. Die Zukunft ist dreigeteilt: teils Cloud, teils Mobile, teils Backend. Nicht alles wird in die Cloud wandern, aber viele Teilprozesse schon.
Hat der bevorstehende Brexit, der Austritt Grossbritanniens aus der EU, Folgen für das Geschäft des ERP- und Business-Software-Anbieters Abacus?
Hintermann: Viele Leute haben mir gesagt, der Brexit sei erst der Vorgeschmack. Das Hauptproblem ist ja nicht Grossbritannien, sondern der mediterrane Gürtel Portugal, Spanien, Italien und Griechenland, der uns extreme Sorgen bereitet. Dort gibt es Nullwachstum, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und keine Perpektiven. Wenn man dort rationalisiert, und neue Technologien wie Industrie 4.0, IoT und Robotik fördern diesen Trend, steigt die Arbeitslosigkeit noch weiter an.
Die Kernfrage ist, ob Europa und der Euro überhaupt eine Zukunft hat, ob das Europa-Konstrukt überhaupt funktionieren kann. Die Unterschiede in Europa werden im Moment nicht kleiner, sondern grösser, und das inmitten einer neuen industriellen Revolution. Das macht die Sache nicht gerade leichter.



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