05.06.2014, 10:00 Uhr

IBMs Schweiz-Chef warnt vor Abschottung

IBM Schweiz ist europäisch eingebunden. Die Masseneinwanderungsinitiative bereitet dem hiesigen Geschäftsführer Christian Keller Sorgen, sagt er im Interview mit Computerworld.
Christian Keller von IBM Schweiz befürchtet Nachteile durch die Masseneinwanderungsinitiative
Die IT-Branche gewinnt in der öffentlichen Wahrnehmung mehr an Bedeutung – meist wegen gescheiterter Projekte und Datenschutz-Skandalen. IBM Schweiz kommuniziert zwar offen, aber zurückhaltend. Mit dem Vorsitzender der Geschäftsleitung der hiesigen Niederlassung, Christian Keller, sprach Computerworld über aktuelle Herausforderungen, die NSA und die Beschaffungspraxis der Behörden. Computerworld: Wie gehen die Geschäfte der IBM Schweiz? Es hat sich viel getan in den letzten Monaten, unter anderem das Zusammenlegen der Niederlassungen in der Schweiz, Deutschland und Österreich. Christian Keller: Ohne detaillierte Zahlen nennen zu wollen: Nach wie vor leistet die IBM Schweiz einen im Verhältnis bedeutenden Anteil am weltweiten Umsatzes von IBM und ist ein wichtiger Arbeitgeber im lokalen Markt. Die hiesige Niederlassung hat sich in den letzten zwölf Monaten mit dem Markt entwickelt. Wir konnten erste Früchte ernten, die durch die engere Zusammenarbeit mit Deutschland und Österreich gereift sind. Insbesondere werden Kompetenzen gebündelt und länderübergreifend dort genutzt, wo sie gerade benötigt werden. Hier drohen gesetzliche Hürden durch die Masseneinwanderungsinitiative... Das stimmt mich äusserst nachdenklich. Wir sind in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden, denn die Vorlage steht diametral gegen unsere Praxis, Fachkräfte dort einzusetzen, wo wir sie brauchen. Wird die Masseneinwanderungsinitiative ernsthafte Konsequenzen für die Schweizer Wirtschaft haben?
Das hängt nun ganz von deren Umsetzung ab. Mit diesem Votum wurde eine radikale Massnahme ergriffen, mit der vieles aufs Spiel gesetzt wird. Viele haben leider vergessen, dass der heutige Wohlstand nicht gottgegeben ist, sondern das Ergebnis einer äusserst leistungsfähigen Wirtschaft, wobei ein liberales Wirtschaftsverständnis und ein offener Arbeitsmarkt entscheidende Faktoren waren und nach wie vor sind. Nun sind wir auf dem besten Weg, die Faktoren, die es uns erlaubt haben, innovativ zu sein und uns im internationalen Geschäft zu behaupten, auszublenden und uns abzuschotten. Das bereitet mir sehr grosse Sorgen. Bei IBM Schweiz arbeiten Menschen aus 22 Nationen, bei IBM Research Zurich Personen aus 45 Staaten. In beiden Fällen ist es nicht so, dass Schweizer benachteiligt werden. Allerdings ist es ein Unterschied, ob ich aus einem Reservoir von sechs bis sieben Millionen oder aus einem weltweiten Pool an hochqualifizierten Fachspezialisten schöpfen kann. Sind es nur die regulatorischen Vorgaben der Initiative oder sind es auch psychologische Faktoren, die die Schweiz womöglich weniger attraktiv machen? Es ist beides. Viele Kollegen im Ausland haben die Schweiz in Vergangenheit als offenes und ausländerfreundliches Land wahrgenommen. Die Wirtschaftsordnung wurde als sehr liberal gelobt, aber die heutige Tendenz signifikante Eingriffe in das bestehende gut funktionierende Wirtschaftssystem vorzunehmen, löst Irritationen aus. Welchen Einfluss nimmt IBM auf die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative? Wir engagieren uns sehr aktiv in den entsprechenden Gremien wie economiesuisse, ICTswitzerland und Swico. Dort bringen wir unsere Sicht der Dinge ein. Dabei geht es nicht um das Verwässern des Volkswillen, sondern um das Sensibilisieren für die möglichen Konsequenzen – auch für ein Unternehmen wie die IBM Schweiz. Nächste Seite: Technologie kein Selbstzweck Zum Tagesgeschäft. Wie hat sich aus Sicht der IBM Schweiz der IT-Markt entwickelt?
Der Schweizer Markt ist absolut gesehen sicher nicht der grösste, aber ein extrem spannender. Das bringt die Kombination aus Technologieaffinität und weltweit führenden Unternehmen mit sich. Auch ohne gewichtige Schwerindustrie, mit hauptsächlich Dienstleistungsunternehmen, setzen sich die Schweizer Firmen mit den neuen technologischen Möglichkeiten rund um Daten/Analytics, Cloud, Mobilität und «sozialer» Zusammenarbeit (Social Collaboration) intensiv auseinander. IBM fasst diese Themen unter dem Begriff «Front Office Transformation» zusammen. Dabei geht es um Data Analytics, der Flexibilisierung der IT durch Cloud, die Mobilität und den «Systems of Engagement», also Zusammenarbeitsmöglichkeiten mit den Methoden sozialer Medien. Die Unternehmen stellen sich die Frage, wie mithilfe von Software-Lösungen sichergestellt werden kann, dass einerseits das Know-how und die Zusammenarbeit innerhalb der Organisation besser fliesst beziehungsweise vereinfacht wird und andererseits sich durch deren Einsatz die Kunden- und unterschiedlichen Geschäftspartner effektiver einbinden lassen. Welche stehen bei den Beratern und Technikern bei IBM Schweiz auf der Agenda? Wir registrieren eine verstärkte Nachfrage in den Bereichen Cloud, Analytics sowie Data und ein Abschwächen der reinen Technologiefragestellungen. So ist die Art und Weise, wie heute IT genutzt wird, eine andere als noch vor zwei Jahren. Viele IT-Dienstleistungen werden «As a Service» konsumiert. Damit einher geht unweigerlich die Frage des Sourcings: Aus welcher Cloud soll die IT bezogen werden? Intern, extern, dediziert, geteilt oder dynamisch hybrid. Hier sind (Architektur-)Berater gefragt, weniger reine Technologiespezialisten. In den letzten sechs Monaten zog ausserdem das Geschäft mit Mobile-Anwendungen merklich an. Während vor Jahren vor allem in den Geschäftsleitungen vermehrt Smartphones und Tablets als moderne Kommunikationsgeräte eingesetzt wurden, eröffnen heute die mobilen Geräte gekoppelt mit den Social Collaboration Tools neue Möglichkeiten der Interaktion und Einbindung der Kunden, Geschäftspartner und Mitarbeiter. Es werden jetzt Business Cases erarbeitet. Dabei geht es nicht mehr allein darum, bestehende Applikationen für das Smartphone oder Tablet bereitzustellen. Vielmehr ermöglichen diese das Erschliessen neuer Geschäftsmöglichkeiten und -modelle. Nächste Seite: Globalisierung trotz NSA IBM stösst immer mehr «alte» Geschäftsbereiche ab, es ist auch von Stellenabbau die Rede. Welche Auswirkungen hat das für die Schweizer Organisation? Beim Verkauf des x86-Geschäfts sind auch Mitarbeiter von IBM Schweiz betroffen, die zu Lenovo wechseln werden. Das ist ein ganz normaler Vorgang, der auch vor rund zehn Jahren beim Veräussern des PC-Business und zuletzt beim Erwerb des Kassen-Geschäfts durch Toshiba in 2012 stattgefunden hat. In allen anderen Bereichen sind wir bestrebt, diejenigen Mitarbeiter zu beschäftigen, die es uns erlauben, die Opportunitäten am Markt anzugehen. Dieser Prozess ist nicht fix, sondern dynamisch. Die IBM passt deshalb ihre Belegschaft laufend den sich verändernden Kundenanforderungen an. US-amerikanische Unternehmen haben an Ansehen verloren wegen der NSA-Spionage. Wie haben die Datenschutz-Diskussionen das Geschäft von IBM Schweiz beeinflusst? Wir stehen in einem aktiven Dialog mit unseren Kunden, um ihnen zu verdeutlichen, dass sich IBM an das Schweizer Datenschutzgesetz hält. Dazu sind wir als hundertprozentige Schweizer Aktiengesellschaft verpflichtet. Unverändert gelten auch die Sicherheitsbestimmungen für unsere Rechenzentren. Auf Kundenwunsch kann IBM die unterschiedlichen Lösungen für die Datenhaltung anbieten. Wer seine Daten innerhalb der Schweiz gesichert haben will oder muss, kann das mit uns vereinbaren. Daran hat sich nichts geändert. Für viele Kunden sind die internationalen Angebote im Übrigen attraktiver. Nächste Seite: Beschaffung auf die Agenda! Bemerkenswert still ist IBM in der Beschaffungsdiskussion der öffentlichen Hand. Wie positioniert sich die hiesige Niederlassung?
Es ist Zeit, dass das Beschaffungsthema diskutiert wird. Hier sind Effizienz und Transparenz dringend notwendig, denn die Ausgaben der öffentlichen Hand beschäftigen mich auch als Steuerzahler. Wir haben ein grosses Interesse daran, dass die Behörden in erster Linie nach ökonomischen und privatwirtschaftlichen Aspekten einkaufen. Angesichts der Diskussion hoffe ich darauf, dass die verantwortlichen Stellen schnell zu einem Ergebnis kommen. Die diversen Arbeitsgruppen und auch die Vorstösse der ICT-Verbände haben meine volle Unterstützung. Schliesslich noch zu IBMs «kognitiven» Computing. Wann sehen wir Anwendungen von Watson in der Schweiz? Im Gesundheitswesen gibt es heute bereits Pilotkunden in den USA, aber auch hierzulande. Interesse bekunden ausserdem Unternehmen aus den Branchen Finanz, Pharma und Versicherungen. Konkrete Kundenbeispiele gibt es in der Schweiz aber noch nicht. Eine Herausforderung ist die Sprache, denn Watson versteht und verarbeitet zurzeit am besten Englisch. Wenn die Technologie in einem Schweizer Call Center verwendet werden soll, ist Englisch keine Option. Kunden wollen in ihrer Muttersprache bedient werden. Für die hiesige Geschäftswelt – die mehrheitlich Englisch spricht – ist Watsons Fremdsprachen-Defizit hingegen kein Hindernis. Dennoch arbeitet IBM aber daran, die Technologie auch für andere Sprachen fit zu machen.



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