07.11.2011, 06:00 Uhr

Visio als BPM-Tool?

Informatiker der Hochschule Luzern haben getestet, inwieweit sich Microsofts Visualisierungs-Tool Visio als Werkzeug fürs Business Process Management eignet.
So gut wie alle Branchengrössen führen eine Lösung für das Geschäftsprozessmanagement im Portfolio – von EMC über Fujitsu, IBM, Oracle, SAP bis zur Software AG. In der Praxis ist aber auch Microsofts Visualisierungs-Software Visio im Einsatz. Die Software wird oft wegen ihrer Benutzerfreundlichkeit, dem grossen Freiheitsgrad bei der Modellierung und den tiefen Lizenzkosten den professionellen Werkzeugen vorgezogen. Mit dem neusten Release, Visio Premium 2010, hat Microsoft auch einen entscheidenden Mangel beseitigt: Die Software unterstützt erstmals die «Business Process Model and Notation» (BPMN), einen der wichtigsten Standards für die Prozessmodellierung. Indes ist die Implementierung von BPMN heute schon wieder überholt, denn Microsoft setzt noch auf die Standardversion 1.2. Anfang Jahr verabschiedete das Kontrollgremium «Object Management Group» jedoch BPMN 2.0.
Wenn Unternehmen trotzdem Visio für die Prozessabstimmung zwischen Fachbereich und IT nutzen wollen, stossen sie an einige Grenzen. Informatiker der Hochschule Luzern haben untersucht, ob sich die Grenzen überschreiten lassen – oder anders gesagt, wie gut Visio Anforderungen im Lebenszyklus von Geschäftsprozessen erfüllt, die über die Dokumentation von Prozessen hinausgehen.

Geschäftsprozesse in vier Phasen

Lebenszyklusmodelle für das Geschäftsprozessmanagement unterscheiden vier Phasen, mit denen die Anforderungen des Business von der IT umgesetzt werden: Analyse: Abbilden, simulieren, analysieren, optimieren, dokumentieren von Prozessen Umsetzung: Kollaboration von Business und IT sowie Implementierung der Prozesse in den IT-Systemen, häufig auf Basis einer BPM-Suite oder ERP-Anwendung Ausführung: Ablauf und Steuerung der Geschäftsprozesse in den IT-Systemen Überwachung: Pflege und kontinuierliche Prozessoptimierung

Stärken & Schwächen von Visio

In der Analysephase hat Visio Stärken bei der Abbildung und Modellierung der Prozesse. Insbesondere werden die Modellnavigation und das automatische Layout sehr gut unterstützt. Neu dazu kommt die Option, Teilprozesse innerhalb eines Diagramms zu expandieren oder zu kollabieren. Vermisst haben wir in dem Microsoft-Programm native BPMN-2.0-Shapes – da Visio bei Version 1.2 stehen geblieben ist. Auch fehlt ein Wörterbuch, mit dem bei der Modellierung das unternehmensspezifische Business-Vokabular definiert und über die Projekte hinweg verwendet werden kann. Wörterbuchfunktionen sind eine Neuerung bei professionellen Modellierungswerkzeugen, welche die Modellqualität verbessern, indem sie für das einheitliche Benennen von Elementen sorgen. Zum Validieren von BPMN-Modellen können einfache Modellierungsregeln aus den Regelsätzen für Flussdiagramme und SharePoint-Workflows verwendet werden. Eine direkte Unterstützung bewährter BPMN-Modellierungsgrundsätze ist allerdings nicht vorhanden. Wollen Anwender Visio jedoch als Modellierungs-Tool einsetzen, sollten sich betriebsinterne Begrifflichkeiten konsistent in Modellen wiederfinden. Auch müsste die Modellierung einer gemeinsamen Konvention folgen. Die Simulation, Analyse und Optimierung von Prozessen kann nur mithilfe kommerzieller Drittanbieter abgedeckt werden. Hier glänzt etwa Global 360 analystView mit Simulations- und Optimierungsfunktionen. Das Add-On ist zudem gut mit Visio integriert und setzt auf SharePoint-Workflows als Ausführungsumgebung für Prozesse.

Kommerzielle Hilfe von Aussen

Eine Alternative ist Process Modeler vom Schweizer Software-Haus ITP Commerce, das eine eigene BPMN-2.0-Palette integriert. Process Modeler stellt Reports als Word-Template mit allen relevanten Prozessdaten bereit, etwa den zugewiesenen Rollen, Beschreibungen und benutzerdefinierten Attributen. Auch beim Umsetzen der Prozesse vermag Visio noch wenig zu leisten. So fehlt ein Export im XML-basierten Austauschformat des BPMN-2.0-Standards. Auch lassen sich der Vergleich von Modellen, die Versions- und Änderungskontrolle sowie ein Modell-Repository für den Zugriff im Team nur durch Add-Ons realisieren. Allerdings bietet zum Beispiel Process Modeler die Option, BPMN-1.2-Modelle aus Visio in seine BPMN-2.0-Erweiterung zu transformieren und ein standardisiertes BPMN 2.0 XML zu exportieren.
Eine integrierte Ausführungsumgebung wird man bei einem Modellierungswerkzeug wie Visio vergeblich suchen. Indes wäre die Integration mit einer Entwicklungsumgebung zur technischen Verfeinerung von BPMN-Modellen wünschenswert. Leider existiert kein nativer Import oder Export von Modellen im BPMN-, XPDL- oder BPEL-Format. Somit können Modelle des Business nicht direkt an die IT übergeben werden. Auch kann die IT-Abteilung die von ihr angestossenen IT-bezogenen Prozessänderungen nicht in Visio importieren und dem Business kommunizieren. Das Überwachen und Visualisieren von Prozessdaten im laufenden Betrieb sowie Reports zur kontinuierlichen Verbesserung der Prozesse liegen ebenfalls ausserhalb des Fokus von Visio. Sie bleiben Add-Ons überlassen, zum Beispiel analystView für SharePoint als Ausführungsumgebung.

Selbst entwickelte Ergänzung

Die Lücken im Bereich der Ausführung und der Überwachung sind akzeptabel. Inakzeptabel sind aber der fehlende Austausch von Modellen im BPMN-2.0-Format und die nicht vorhandene Modellierung mit Wörterbüchern und konfigurierbaren Validierungsregeln. Um diese Lücken zu schliessen, stellt Microsoft allerdings mit den Visio-APIs und dem Visio-SDK geeignete Werkzeuge bereit, mit denen Entwickler passende Add-Ons selbst programmieren können.
Die Hochschule Luzern hat zum Beispiel mithilfe des Visio-SDK eine einfache Wörterbuchlösung implementiert, in der das Business-Vokabular während der Modellierung hinterlegt und über mehrere Diagramme hinweg verwendet werden kann. Wird ein Begriff modifiziert, so werden alle verwendenden Modelle beim Öffnen automatisch aktualisiert. Eigene Modellierungskonventionen lassen sich in Regelsätzen mit den Regelkonstrukten von Visio sowie der Connectivity API umsetzen. Der BPMN-2.0-Import/Export wurde von den Luzerner Informatikern dagegen auf der Basis des Eclipse-Projekts MDT-BPMN 2.0 entwickelt (www.eclipse.org/modeling/mdt). Das auf Java basierende Projekt wurde mittels IKVM-Konverter in C# kompiliert und die resultierenden DLL-Dateien in Visual Studio eingebunden. Die Add-Ons decken die am häufigsten verwendeten BPMN-Shapes ab und sind unter http://bpmn4visio.blogspot.com inklusive Quellcode verfügbar. Der Aufwand für die Entwicklung lag bei circa 100 Stunden. Auch wenn die bereitgestellte Dokumentation noch lückenhaft ist, lassen sich die APIs doch gut in der Praxis anwenden.

Fazit: Visio nachrüsten

Visio modelliert in der neusten Version Prozesse auf BPMN-Basis. Leider werden BPMN-2.0-Shapes noch nicht unterstützt und auch das XML-Austauschformat fehlt. Erweiterungen von Drittanbietern erlauben es, Modelle zu simulieren, zu optimieren und im Team zu bearbeiten. Jedoch erhöhen die Add-Ons auch die Lizenzkosten signifikant. Für Unternehmen, die Visio in grösserem Umfang für das Geschäftsprozessmanagement nutzen, können sich deshalb selbst entwickelte Add-Ons durchaus rechnen. Denn qualitativ bessere Modelle und ein standardisiertes Austauschformat führen zu Einsparungen in den nachfolgenden Phasen des Geschäftsprozesslebenszyklus.


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