10.07.2013, 12:05 Uhr

Mit Varianten leben

Hochdifferenzierte Märkte brauchen Anwendungen, die eine grosse Variationsbreite an Prozessen unterstützen. Damit werden diese jedoch komplex und schwierig zu warten. Das schichtenorientierte BPM-Modell verbindet Standardisierung mit Flexibilität.
Das schichtenorientierte BPM-Modell verbindet Standardisierung mit Flexibilität
Der Autor ist Manager Solution Consulting bei Pegasystems in München.
So sehr aus Kostengründen eine Standardisierung der Anwendungen geboten scheint, wird von der fachlichen Seite doch zumeist die Berücksichtigung einer grösseren Variantenvielfalt verlangt. Nötig ist dies beispielsweise aufgrund einer wachsenden Segmentierung von Kundengruppen, der stärkeren Differenzierung von Produktvarianten, wegen Multikanalstrategien oder zur Berücksichtigung eines differenzierten Kundenwerts und von regionalen Ausprägungen. Differenzieren die Firmen ihre Geschäftsprozesse immer mehr aus, dann werden die Applikationen komplexer. Damit wird es aber auch schwieriger, sie zu pflegen und weiterzuent­wickeln. Die grösste Herausforderung bei Standardisierungsinitiativen ist daher der Umgang mit einer wachsenden Fülle von Varianten. Initiativen zur Standardisierung scheitern oft auch am Widerstand der späteren Nutzer, die ihre speziellen Anforderungen bzw. als relevant erachteten Varianten im neuen System nicht genügend berücksichtigt sehen. Schlimmer noch ist, wenn aufgrund des Anwenderdrucks die zuvor mühsam standardisierten Prozesse nach und nach wieder um Varianten erweitert werden. So entstehen zwangsläufig nicht mehr wartbare Prozessmodelle. Gerade ERP-Systeme beruhen vom Konzept her auf einer hochgradigen Standardisierung; die Hersteller müssen aber die individuellen Anforderungen der Kunden aufgreifen, wenn sie ihre Lösung gegen Individual-Software positionieren wollen, und bieten daher in der Regel äusserst umfangreiche Konfigurationsmöglichkeiten an. Dennoch bleibt die Möglichkeit zur Abdeckung von Varianten begrenzt. Typischerweise können Varianten nur auf Datenebene verwaltet werden, etwa als Produktvarianten oder Kundensegmente. In der Regel fehlt jedoch die dynamische Umsetzung in den wertschöpfenden Prozessen, etwa die Bereitstellung eines höheren Servicelevels für «Platin»-Kunden. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Varianten im Schichtenmodell

Varianten im Schichtenmodell

Einen anderen Ansatz verfolgen neuerdings BPM-Lösungen, die das Dilemma Standard versus Varianten durch ein Schichtenmodell beheben, so zum Beispiel die BPM-Lösung von Pegasystems. Aufbauend auf den unternehmensweit definierten Standards wird Bottom-up ein Schichtenmodell entwickelt, in dem die Spe­zialisierung, also die Ausprägung der jeweiligen Varianten, von unten nach oben zunimmt beziehungsweise sich überlagert. Wichtig ist dabei, dass in den übereinanderliegenden Schichten nur das jeweilige Delta, also die einen konkreten Anwendungsfall bestimmende Variante, abgelegt wird. Die in den darunter­liegenden Schichten definierten Standards und Varianten werden geerbt, wodurch Redundanz vermieden und Wiederverwendung ermöglicht wird. Es können bei der Ausführung aber auch einzelne Schichten ausgeblendet werden. Die BPM-Engine überwacht dann, dass das Gesamtmodell konsistent bleibt (vgl. Abbildung 1). Das Verfahren erinnert an Bildbearbeitungsprogramme wie Photoshop: Auch dort lassen sich einzelne Bildelemente, Bearbeitungen oder spezielle Filter auf separaten Layern ab­legen, die dann je nach Bedarf ein- oder aus­geblendet werden und so ein je nach Anforderung differenziertes Gesamtbild ergeben.
Das BPM-System erkennt anhand von Kontextinformationen, welche Schichten für einen konkreten Prozess zu aktivieren sind, beispielsweise in welcher Region eine Bestellung aufgegeben wurde, zu welcher Kundengruppe der Besteller gehört oder um welches Produkt es sich handelt. Die Schichten können dabei unterschiedliche Prozessschritte, aber auch verschiedene, kontextabhängige Bearbeitungsmasken umfassen. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Beispiel Bestellprozess

Beispiel Bestellprozess

Soll in einem derartig standardisierten Prozess zum Beispiel ein Bestellprozess dargestellt werden, könnte – als eine Variante unter vielen – ein Sub-Prozess für eine bestimmte «Region I» spezialisiert werden sowie eine eigene Erfassungsmaske für ein bestimmtes Produkt. Sub-Prozess I würde etwa ein individuelles Verfahren abbilden, beispielsweise regional unterschiedliche Ausfuhrbestimmungen und Transportkosten. Zum Zeitpunkt der Prozessdefinition müssten dann (mindestens) drei Artefakte modelliert werden: Der standardisierte Prozess mit den für alle Varianten gültigen Grundfunktionen, der spezialisierte Sub-Prozess für die Region I und die spezialisierte Erfassungsmaske sowie eventuell bestimmte typische Prozessschritte für Produkt A. Eine Kontextinformation zur Bestimmung von Varianten könnte etwa die Postleitzahl des Bestellers sein, in welcher Region die Bestellung aufgegeben wird, oder die Wahl eines bestimmten Produkts. Mit diesen Informationen wird das Schichtenmodell mit einem Algorithmus durchsucht. Werden spezialisierte Artefakte gefunden, die zum Kontext der Prozessausführung passen, ersetzt das System damit die jeweiligen standardisierten Artefakte. In diesem Beispiel bei einer Bestellung von Produkt A in Region I würde also im standardisierten Prozess die Erfassungsmaske A und der Sub-Prozess 1 das Standardverfahren ersetzen. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Dynamische Orchestrierung

Dynamische Orchestrierung

Die Besonderheit dieses Ansatzes liegt in der dynamischen Orchestrierung des Varianten­prozesses zur Laufzeit unter Verwendung von deklarativen Mechanismen und Vererbung. Als technisches Grundkonzept sind dabei folgende Punkte zu beachten: - Der standardisierte Prozess und die für die Varianten relevanten Artefakte werden getrennt voneinander definiert. - Zur Laufzeit wird deklarativ über Regeln und Vererbung bestimmt, welche varianten Artefakte relevant sind. Der auszuführende Prozess wird zur Laufzeit dynamisch mit den varianten Artefakten angereichert bzw. die entsprechenden Artefakte werden ersetzt. Das System überwacht, dass keine Inkonsistenzen auftreten. Die Vorteile dieses Ansatzes sind vor allem ein sehr hoher Grad an Wiederverwendung und die Möglichkeit, einzelne Artefakte nahezu beliebig zu kombinieren. Varianten können auf sehr einfache Weise abgebildet werden, sodass bestehende Prozesse ohne grossen Aufwand erweitert oder an neue Situationen angepasst werden können. Unternehmen erreichen auf diese Weise einen hohen Grad an Standardisierung – die Basisschicht muss bei Änderungen nicht angepasst werden – bei gleichzeitig grosser Flexibilität in der Variantenabbildung. Die Flexibilität ist in diesem Modell auch bei grosser Variantenbreite und -komplexität erheblich leichter zu beherrschen als in vergleichbaren Systemen. Allerdings benötigt man bei dieser BPM-Lösung aufgrund der dynamischen Orchestrierung zusätzliche Werkzeuge zur Visualisierung des Laufzeitverhaltens sowie der Abhängigkeit der Artefakte untereinander. Die Leistungs­fähigkeit eines Systems ergibt sich letztlich weniger aus der Möglichkeit, Schichten und Artefakte zu definieren und dabei auch bei grosser Variationsbreite die Übersicht zu behalten, als aus der intelligenten Zusammenführung zur Laufzeit. Die Stärke einer solchen Lösung liegt also im Algorithmus, der aus den Kontextinformationen die richtigen Artefakte heraussuchen muss und dabei auch Konflikte verhindert, wenn beispielsweise Produkt A nur für Region II verfügbar ist. Ist das sicher­gestellt, erhalten Unternehmen ein System, mit dem sie auch hochdifferenzierte Angebote zuverlässig und effizient beherrschen. Angesichts kürzer werdender Release-Zyklen, eines wachsenden Marktdrucks und höherer Compliance-Anforderungen können sich Unternehmen mit einer derartigen BPM-Lösung wieder ein Stück Handlungsfreiheit zurückholen.


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