18.07.2008, 03:39 Uhr

Schweizer E-Health im Schneckentempo

Heute in einem Jahr soll jeder Schweizer eine Versichertenkarte besitzen, auf der lebenswichtige Diagnosen gespeichert sein können. So der Plan des Bundesrats. Ist diese Vorgabe realistisch? Eine Bestandsaufnahme.
Die neue Versichertenkarte wird ab 2009 abgegeben: Patienten können dort medizinische Daten speichern, die für eine Behandlung wichtig sind.
Die Pläne sind ambitioniert: Bis 2015 soll das komplette Gesundheitssystem digitalisiert werden. Die Patientenakten, die heute noch verstreut über Kantone, Spitäler, Arztpraxen und Versicherungsunternehmen vorliegen, sollen in Zukunft in einem elektronischen Patientendossier zusammengefasst werden. Das hat Konsequenzen für alle Beteiligten: Patienten, Ärzte, Spitäler, Apotheken, Versicherungen - und IT-Unternehmen, die das Technikgerüst für die Dossiers liefern.
Vor zweieinhalb Jahren verschrieb der Bundesrat dem Gesundheitswesen die Digitalisierung. Auf dem Rezept - der «Strategie E-Health Schweiz» - steht, der Bevölkerung solle Zugang zu einer qualitativ besseren, effizienteren, sichereren und kostengünstigeren Krankenversorgung gewährt werden.
Insbesondere bei den Kosten ist die Schweiz fast Weltspitze. Laut OECD-Report aus dem Vorjahr ist das Gesundheitssystem nach dem US-amerikanischen das zweitteuerste auf dem Globus. 11,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden für Leistungen ausgegeben. Dem gegenüber steht ein 20. Platz im WHO-Qualitätsrating. Veränderungen sind dringend notwendig - und angestossen: Seit Januar dieses Jahres ist eine Vereinbarung zwischen Bund und Kantonen in Kraft, welche die bisher föderalistische Organisation der Gesundheitsversorgung harmonisieren soll. Damit werden Standards definiert, nach denen künftig landesweit der Austausch von Gesundheitsdaten geschehen soll. Bis Ende dieses Jahres haben die Vertragspartien Zeit, diese Voraussetzungen zu schaffen. Dann starten die ersten Modellversuche.

Elektronische Versichertenkarte

Parallel dazu - so steht es auf dem Rezept des Bundesrates - erhält jeder Schweizer im nächsten Jahr eine Versichertenkarte. Diese Karte müssen alle Bürger vorweisen, wenn sie Leistungen bei Ärzten, Spitälern oder Apotheken beziehen und über die Krankenversicherung abrechnen wollen.
Zusätzlich können die Versicherten freiwillig auf der Karte medizinische Daten abspeichern lassen, die für eine Arztbehandlung wichtig sind. Praktisch etwa im Notfall, wenn der Sanitäter direkt am Unfallort auf seinem Kartenlesegerät sieht, welche Medikamente oder spezielle Behandlung der bewusstlose Patient benötigt. Die technischen Eckdaten der Karteninhalte: Alle Daten, die zur Identifikation des Patienten und der Rechnungsstellung dienen, müssen in ISO-Normen festgeschriebenen Formaten abgelegt sein. Damit wird auch die Verwendbarkeit der Karte im Ausland sichergestellt, die EU-Mitgliedsstaaten zum Beispiel verwenden das gleiche Format. Alle medizinischen Daten, die nur auf ausdrücklichen Wunsch des Versicherten auf der Karte gespeichert sind, liegen der Vorgabe nach ebenfalls in einem standardisierten Format vor, das zwar bundesweit, aber nicht international genormt ist. Für das künftige Onlineverfahren sind das Abfragedatum und eine Abfragenummer im Kartenspeicher hinterlegt. Anhand der Nummer können beide Seiten die Onlineabfrage rekonstruieren.
Im Standard eCH-0064 des zuständigen Vereins eCH (www.ech.ch) sind alle technischen Daten der Versichertenkarte festgeschrieben. So muss der Chipkartenspeicher über eine Kapazität von mindestens 32 KByte verfügen. Darin sind für die administrativen Inhalte zwei KByte reserviert. Für die optionalen medizinischen Daten sollen maximal 70 KByte verwendbar sein, wobei nur ein Bruchteil auf dem Chip abgelegt ist.

Grossbaustelle Gesundheitswesen

Hauptziel der Krankenversicherungskarte ist das Minimieren des administrativen Aufwands bei der Leistungsabrechnung in der Krankenversicherung. Die elektronische Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten ruft allerdings auch Kritiker auf den Plan. Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB), Hanspeter Thür, bezeichnet das Gesundheitswesen seit Jahren als «Grossbaustelle». Krankenversicherungsunternehmen nutzten die neuen Technologien teilweise derart, dass geheime Persönlichkeitsdaten der Versicherten in Gefahr gerieten, missbraucht zu werden. Mit einer Umfrage unter den Schweizer Versicherern über ihre Datenschutzrichtlinien will Thür klären, welche Kriterien den
Unternehmen für den ordnungsgemässen Umgang mit persönlichen Daten an die Hand gegeben werden müssen.
Die Schweizer Ärzteschaft sieht die Kombination von Versichertenkarten und medizinischen Daten aus Gründen der Patientensicherheit und des Datenschutzes als «äusserst problematisch» an. «Die Glaubwürdigkeit der medizinischen Daten muss grundsätzlich angezweifelt werden, da ihre Aktualität und Vollständigkeit nicht gewährleistet sind», so die Ärztevereinigung. «Falls die medizinischen Daten auf der Versichertenkarte nicht aktuell sind oder ein Patient eine falsche Karte vorweist, können Gefahren für deren Träger entstehen».

Elektronische Unterschrift

Die Gesundheitsstrategen wollen die Missbrauchsgefahr von Versichertenkarten mit der Einführung einer elektronischen Signatur bis Ende 2010 bannen. So steht es auf dem E-Health-Rezept des Bundesrats. Die Unterschrift soll es denjenigen Versicherten, die medizinische Daten auf ihren Chipkarten gespeichert haben, erlauben, ihr Patientendossier abzurufen und Berechtigungen darüber zu erteilen, welcher Arzt oder Leistungserbringer die Daten einsehen oder verwalten darf. Bis Anfang 2012 soll die Signatur etabliert sein, allerdings nur optional. Schweizer Bürger, die keine Patientendaten auf ihrer Karte speichern wollen, brauchen auch keine Signatur.
Wenn eine «ausreichende Anzahl» der Leistungserbringer die Krankengeschichte ihrer Patienten elektronisch führt und standardisiert gegenseitig zugänglich machen sowie austauschen kann, sei ein Meilenstein für E-Health erreicht, davon sind die Gesundheitsstrategen überzeugt. Dabei stünden laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Akutspitäler und niedergelassenen Ärzte im Vordergrund. Sie seien am häufigsten mit Problemen ihrer Patienten konfrontiert. Anhand ihrer Daten liessen sich am besten zum Beispiel unnötige Doppelbehandlungen vermeiden.

Online-Gesundheitsportal

Mit dem Ziel, in circa sieben Jahren zur zentralen Anlaufstelle für Gesundheitsdienste in der Schweiz zu werden, geht 2010 ein gemeinsames Portal von Bund, Kantonen, Gemeinden und Organisationen wie WHO ans Netz. Die Europäische Union EU hat bereits im Mai 2006 eine vergleichbare Website frei geschaltet (http://health.europa.eu). Das Schweizer Pendant soll dann Schritt für Schritt erweitert werden: Zertifizierte private Anbieter können sich ab 2012 an dem Onlinedienst beteiligen, drei Jahre später sollen die Bürger in personalisierten Bereichen passend zu ihrem individuellen Profil Gesundheitsratschläge abrufen können. Über verschlüsselte Verbindungen wird dann auch der Zugriff auf persönliche Daten möglich. Der Patient entscheidet gemäss der E-Health-Strategie jedoch selbst, für welchen Akteur im Gesundheitswesen seine Daten einsehbar sind.

Alle Daten in Patientenhand

Der selbst bestimmte Umgang mit Gesundheitsdaten setzt die Aufklärung der Bevölkerung und aller anderen Teilnehmer voraus. Das hat auch der Bundesrat berücksichtigt. Fachpersonal soll etwa vom nächsten Jahr an geschult werden, bis 2015 sind breit angelegte Informationskampagnen geplant. Per Newsletter (www.ehealth.admin.ch) klären zum Beispiel seit Anfang des Jahres das Eidgenössische Departement des Innern und das BAG über die Fortschritte bei der Versichertenkarte und dem Patientendossier auf. Aus der Privatwirtschaft hat sich die neu gegründete Interessengemeinschaft
E-Health (IG eHealth, www.ig-ehealth.ch) ebenfalls in die Statuten geschrieben, sich für die breite Akzeptanz von E-Health einzusetzen. Dahinter stehen Firmen wie Cisco, IBM, Intel, Microsoft, SAP, die Schweizerische Post, Siemens und Swisscom.

Fazit: Ambitioniert, aber machbar

Das E-Health-Rezept des Bundesrates ist aus heutiger Sicht allerdings noch sehr lang, die Ziele hoch gesteckt. Aber: Die Technik ist bereits vorhanden. Wenn sich die Akteure im Gesundheitswesen gemeinsam mit der Privatwirtschaft nicht nur ins Pflichtenheft schreiben, dass sie Pläne haben, sondern auch, dass die Vorgaben entsprechend umgesetzt werden, hat die Schweiz in einigen Jahren eine international konkurrenzfähige Infrastruktur, die das Gesundheitswesen qualitativ besser, effizienter und kostengünstiger macht.
Über Fortschritte beim E-Health will am 26. und 27. August 2008 der erste Swiss eHealth Summit (www.ehealthsummit.ch) im Berner Stade de Suisse informieren. Experten aus Behörden, Medizin, Pflege, Spital und Versicherung werden Themen wie IT-gestütztes Medizincontrolling und die Vernetzung von Spitälern, Praxen sowie Apotheken diskutieren.



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